Um was geht es in „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“ von Jesmyn Ward?

Es ist ein elendes Leben im Mississippi-Delta für den alten „Pop“ Stone, seine todkranke Frau und ihre Tochter Leonie. Nicht nur aus Mangel an Geld: Leonie ist süchtig und kümmert sich kaum um ihre Kinder Jojo und Kayla. Pop versucht, dem dreizehnjährigen Jojo so viel wie möglich beizubringen. Eines Tages soll der Vater der beiden – ein Weißer aus einer Familie von Rassisten – aus dem Gefängnis entlassen werden. Leonie unternimmt mit den Kindern und einer Freundin einen Roadtrip, um ihn abzuholen. Mit an Bord: Die Geister von Verstorbenen. Denn sowohl Leonie (die allerdings nur nach dem Drogenkonsum) als auch ihr Sohn können sie sehen. Ganz und gar real sind hingegen die Unwägbarkeiten, die ihnen auf der verrückten Fahrt begegnen. Der Trip wird zu einer Herausforderung, bei der es darum geht, seinen Ängsten zu begegnen.

Kritik zu dem Roman „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“:

Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt von Jesmyn WardJesmyn Ward erzählt in „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“ ein mehrschichtiges Südstaaten-Familiendrama: Da sind die Lebenden, drei Generationen mit all ihrem Leid, und da die Toten, die ihre Geschichte erzählen müssen. Leonie sieht ihren verstorbenen Bruder, der sie auffordert, ihr verkorkstes Leben zu ändern. Jojo wird bei der Fahrt von Richie begleitet, einem Jungen, der vor langer Zeit mit Pop im Gefängnis saß und ein tragisches Ende hatte. Abgesehen von Jojo und Leonie fungiert auch Richie zeitweise als Erzähler.

Eine rührselige Geisterstory oder gar esoterischer Kitsch ist „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“ aber beileibe nicht. Jesmyn Ward erzählt die Geschichte zweier miteinander verwobener Familien, die in einer Generation – der von Leonie – miteinander verbunden sind. Obwohl der weiße Michael einen rassistischen Vater hat, der findet, dass die Schwarzen ihren Platz kennen sollten, verliebt er sich in Leonie. Sie bekommen zwei Kinder, aber Michael muss in den Knast und Leonie interessiert sich mehr für Drogen als für die Familie. Die Großeltern sind die Fixpunkte im Leben von Jojo und Kayla. Sie bedeuten Heimat – und das ist etwas, dass auch die Verstorbenen suchen. Sie verlangen gehört zu werden, damit sie frei sein können. Die Gabe, die Toten zu sehen ist ein Teil der Familie, also sind auch ihre Geschichten ein Teil der Familiengeschichte.

„Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“ ist ein ungewöhnlicher Roman. Wer sich auf die mystisch anmutenden Elemente einlässt, erlebt eine in sensibler, einfühlsamer Sprache verfasste Geschichte von bildgewaltiger Wucht. Im Grunde geht es nicht um eine einzige Geschichte; Jesmyn Ward erzählt viele kleine Geschichten, in verschiedenen Perspektiven, aus Sicht von verschiedenen Figuren. Es sind häufig Zeugnisse eines Überlebenskampfes, getragen von Hilflosigkeit: Hier ist Jojos krebskranke Großmutter „Mam“, mit deren bevorstehenden Tod niemand umzugehen weiß. Pops Zeit im Gefängnis, über die er nicht alles erzählt hat – nicht alles erzählen konnte und das damit verbundene Schicksal des jungen Richie. Der Tod von Leonies Bruder, für den die Familie ihres Mannes verantwortlich ist. Und natürlich ist da Leonie selbst, die der Trostlosigkeit ihres Daseins nur mithilfe der Drogen entkommen kann. Es ist ein Kreislauf: Die Probleme der Menschen resultieren aus Armut, Rassismus und Drogenmissbrauch. Es sind schwierige Themen, die Jesmyn Ward verarbeitet, und sie tut das mit einer komplexen, aber fesselnd erzählten Handlung. Ihr wunderbarer Stil macht dabei sogar Szenen erträglich, in denen es zu Gewaltausbrüchen kommt.

Über allem liegt die Hoffnung, die aus der Generation von Jojo und seiner Schwester Kayla entspringt. Ihre tiefe Verbundenheit, sowohl miteinander als auch mit der Geschichte ihrer Familie, lässt auch den Leser hoffen: Dass sich immer noch alles zum Guten wenden kann, auch wenn alles längst verloren scheint. „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten“ ist große Literatur und gleichzeitig eine Freude zu lesen.

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Produktinfos:

Verlag: Antje Kunstmann

Seiten: 300

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