Um was geht es „Nacht in Caracas“?
In Venezuela gibt es keine Zukunft, für niemanden. Das ist die feste Überzeugung der Ich-Erzählerin Adelaida, die erst vor kurzem ihre Mutter und damit ihren wichtigsten Halt verloren hat. Eines Tages wird ihre Wohnung von einer Bande marodierender Frauen besetzt, und sie selbst flüchtet zu ihrer Nachbarin. Die jedoch ist tot. In ihren Papieren glaubt Adelaide eine Lösung zu entdecken: Wenn sie den Pass der Nachbarin fälscht, ihre Kleidung trägt, sich also praktisch in ihre Nachbarin verwandelt, könnte sie aus dem Land fliehen.
Hinter dieser knappen Beschreibung verbirgt sich der starke Debut-Roman der Venezolanerin Karina Sainz Borgo. Auf uns mag einiges in „Nacht in Caracas“ grotesk wirken: Kaum vorstellbar, dass die Protagonistin nach einem Gang zum Bäcker das Schloss ihrer Wohnungstür ausgewechselt vorfindet und ihre Wohnung mitsamt aller Habseligkeiten an eine brutale Bande aufgeben muss. Aber ist es wirklich so unvorstellbar? Caracas gilt als die gefährlichste Stadt der Welt. Tatsächlich floriert der Schwarzmarkt im ganzen Land, Menschen hungern, sterben gar aufgrund von Stromausfällen, die Kriminalität hat ungeahnte Höhen erreicht. Dieser Roman mag eine fiktive Geschichte sein, doch ist sie beklemmend nah an der Realität – und darum um so eindringlicher.
Terror und Folter sind eingezogen in ein Land, das früher von Europäern bevölkert wurde, die sich hier ein gutes Leben versprachen. Nun gehen jene, die es können – meist zurück in die Länder ihrer Vorväter. Adelaida weiß, dass zu bleiben wohl gefährlicher ist als der Versuch einer Flucht. Sie weiß aber auch, dass sie – die bereits ihre Mutter verlor, ihre Wohnung, ihre Erinnerungen, ihren Besitz und schließlich ihre Heimat – nun endgültig alles aufgibt, selbst ihren Namen. Adelaida muss auch ihre Würde und ihre Moralvorstellungen hinter sich lassen, wenn sie überleben will.
Karina Sainz Borgo ist Journalistin, doch sie hat sich entschieden, statt neutraler und nüchterner Fakten auf den emotionalen Wert eines Romans zu setzen. Das gelingt ihr in ihrem ersten Roman auf eindringliche und sehr persönliche Weise. Sie selbst lebt schon seit einigen Jahren in Spanien, hat aber noch Verwandte in Venezuela. Und sie versucht, ihren LeserInnen neben all dem Schrecken auch die Schönheit eines untergehenden Landes nahezubringen.
„Nacht in Caracas“ ist ein sehr berührender Roman, dessen Schwächen für ein Debüt überraschend gering ausfallen. Eine davon scheint zudem einem zu hastigen Lektorat geschuldet zu sein: Ein inhaltlicher Fehler (die Zeitverschiebung beträgt mal eine Stunde, mal zwei Stunden). Und die zahlreichen Rückblicke im Buch fallen gelegentlich etwas ausschweifend aus, was mitunter den Lesefluss stören kann. Sie sind trotz allem wichtig, denn immerhin sind Erinnerungen letzten Endes alles, was der Protagonistin von ihrem Land und ihrem früheren Leben bleiben.
Mein Fazit zu dem Buch von Karina Sainz Borgo:
Fast den ganzen Roman über befindet sich die Protagonistin Adelaida in einer Ausnahmesituation: Ihre Mutter stirbt, sie sorgt sich um ihre finanzielle Lage, verliert ihre Wohnung und lässt schließlich alles hinter sich. Sie ist ein exemplarisches Beispiel für das Leben in einem zerstörten, korrumpierten Land, und Karina Sainz Borgo beschreibt dies mit intensiver, wütender, atmosphärischer und bisweilen poetischer Sprache.
Ihr Roman ist gleichzeitig ein wichtiges Zeitdokument wie ein gelungenes literarisches Debut. Ihre Schilderungen sind nicht immer leicht zu ertragen, lassen jedoch auch stets die verwundete Liebe zu ihrem Heimatland erkennen. „Nacht in Caracas“ legt für uns, weit weg vom Geschehen, den Finger in die Wunde und zwingt uns, hinzusehen auf Geschehnisse, die wir gerne weit von uns schieben.
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- Infos über das Buch:
- Serie: Keine
- Verlag: FISCHER
- Seiten: 224
- Veröffentlichung: 14.8.2019
- Formate: Buch, eBook
- Buch-ISBN: 9783596704972