Um was geht es in „Abgrund“?
Im Jahr 1914 steht die Welt am Abgrund, denn der Erste Weltkrieg wird, wie man später weiß, den Verlauf der Menschheitsgeschichte nachhaltig verändern. In dieser Zeit ist Herbert Henry Asquith, eher bekannt als H. H. Asquith britischer Premierminister. Er gilt als brillanter politischer Stratege und hat an großen sozialen Reformen seiner Regierung aktiv mitgewirkt. Jetzt leistet er sich jedoch eine Schwäche. Diese heißt Venetia Stanley, ist halb so alt wie er, hübsch, klug und aristokratisch, Asquith schreibt ihr Liebesbriefe, in denen er ihr auch Staatsgeheimnisse anvertraut. Und seine Besessenheit von der jungen Frau wird zunehmend größer und dokumentiert sich in noch mehr Briefen. Doch die widerrechtliche Enthüllung der Geheimnisse bleibt nicht unentdeckt. Als ein Offizier des Geheimdienstes der Sache nachgeht, eskaliert die Situation.
Kritik zu dem Buch von Robert Harris:
Die Frage, ob man historische Begebenheiten in anspruchsvolle Literatur verwandeln kann, beweist der britische Autor Robert Harris mit jedem seiner Werke erneut. Egal ob es um die Frage geht, was wäre, wenn die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten („Vaterland“) oder ob es um die fiktive zeitgenössische Wahl eines Papstes geht („Konklave“), in jedem seiner Bücher brilliert der Schriftsteller mit einem mehr als fundierten Wissen und einem sehr hohen sprachlichen Niveau.
Jetzt legt er mit „Abgrund“ seinen aktuellen Roman vor, der wie kaum ein anderes Buch zuvor, sicher das britischste und durchaus auch ungewöhnlichste Werk seiner Karriere ist. Im Mittelpunkt steht Premierminister Asquith, dessen Obsession zu der jungen Venetia Stanley weitreichende Folgen hat. In seinen Briefen flüchtet er sich beinah in eine Art Traumwelt, in der er die desaströsen Niederlagen, die mit dem Kriegseintritt verbunden sind, verarbeitet. Und das ist auch der Punkt, der vor allem nicht britische Leser aufstoßen wird. Unzählige Briefausschnitte, in denen insbesondere er Kriegsbeginn und die damit einhergehenden Gefühle thematisiert werden, sind sicher für Leser außerhalb des Empires nicht relevant. Daher fällt es auch sehr schwer, sich mit den Charakteren zu identifizieren.
Sicher, Robert Harris zeigt sich in „Abgrund“ einmal mehr als brillanter Rechercheur. Er hat hunderte Briefe Asquiths gelesen und aus dem Wechselspiel von Hochphasen und depressiven Abschnitten, in denen Asquiths sich mit Selbstmordgedanken quält, so aufbereitet, dass man ein gutes Gefühl für die historische Figur bekommt. Leider geht das ein wenig zu Lasten der Spannung und des Lesetempos.
Auf der anderen Seite kann man gerade dieses Manko auch als Pluspunkt sehen. Man kann Robert Harris sicher nicht vorwerfen, dass er an seine Romane am Reißbrett plant und sich stets des gleichen Schemas bedient. In „Abgrund“ ist es eine Mischung auf Briefroman und konzentrierten geschichtlichen Ereignissen, die Harris durchaus gekonnt erzählt. Zumal es nicht nur um den Skandal an sich geht, sondern um die Tatsache, dass er der Bevölkerung in Europa den Spiegel vorhält, wie sich das Leben durch den Krieg verändert hat. Und in unseren Zeiten ist auch das leider ein aktuelles Thema.
Dies ist sicher nicht das beste Buch von dem Schriftsteller. Trotzdem ist es lesenswert, da es einen Skandal im Mittelpunkt hat, den viele nicht in dieser Form im Blick hatten und es zeigt die enorme schriftstellerische Wandlungsfähigkeit eines der besten Autoren der Gegenwart.
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- Buchinfos:
- Serie: Cold-Cases 4
- Verlag: Heyne
- Seiten: 512
- Veröffentlichung: 6.11.2024
- Formate: Buch, eBook, Hörbuch
- Buch-ISBN: 9783453273726